Am 29. Oktober jährt sich die Ausrufung der Türkischen Republik zum hundertsten Mal. Ein historisches Datum, das die tiefen gesellschaftlichen und politischen Gräben zwischen dem Gründervater Mustafa Kemal Atatürk und dem aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan offenbart.
Von Atatürk zu Erdogan: Eine Veränderung des Kurses
Kemal Atatürk war ein Revolutionär und Modernisierer. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches schuf er die Türkische Republik und führte das Land in eine neue Ära der Moderne und des Westens. In seinem Bestreben, eine säkulare und moderne Türkei zu schaffen, verabschiedete er Reformen wie das aktive und passive Frauenwahlrecht, die Einführung des lateinischen Alphabets und das Verbot von traditioneller islamischer Kleidung wie dem Turban und Fez.
Im Gegensatz dazu steht Erdogan, der das Land in eine andere Richtung lenken will. Er positioniert sich in der Tradition der Osmanen und stellt sich als Schutzherr der Muslime weltweit dar. Mit der Aufhebung des Kopftuchverbots in öffentlichen Institutionen und der Stärkung der Religionsbehörde hat Erdogan die Religion wieder in die Politik gebracht.
Die AKP und ihre Wählerschaft
Die Regierungspartei AKP war einst ein Sprachrohr für eine breite Gesellschaftsschicht. Heute jedoch vertritt sie vor allem die Interessen des streng muslimisch-konservativen Teils der Bevölkerung. Die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes wird negiert, was zu tiefen gesellschaftlichen Spannungen führt.
Freiheit und Repression unter Erdogan
Erdogan und seine Anhänger erzählen eine Geschichte der Freiheit und des Strebens nach Gerechtigkeit. Doch diese Freiheit hat ihre Grenzen, wie das harte Vorgehen gegen Kritiker zeigt. Das Freund-Feind-Schema, das Erdogan pflegt, schafft einen vermeintlichen Gegner aus Oppositionellen, Homosexuellen und anderen Minderheiten, der dem frommen Türken gegenübersteht.
Die Türkei und die Europäische Union
Seit Jahren kritisiert die Europäische Union die Rückschritte der Türkei in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Die Beitrittsverhandlungen liegen auf Eis, und auch der diesjährige Bericht der EU-Kommission dürfte weitere Rückschritte festhalten.
Das Erbe Atatürks und Erdogans Ambitionen
Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci-Universität in Istanbul, meint, dass Erdogan zwar vom Erbe Atatürks profitiert, gleichzeitig aber mit Neid auf dessen Stellung und Einfluss blickt. Statt eines 100-jährigen Jubiläums würde Erdogan lieber eine zweite Gründung der Republik sehen – jedoch mit völlig anderen Vorzeichen.
Der hundertste Jahrestag der Türkischen Republik ist somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Spaltung des Landes. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Türkei in den kommenden Jahren entwickeln wird und welche Rolle Erdogan und seine Partei dabei spielen werden.