In den letzten Jahren hat das Thema sexueller Missbrauch in kirchlichen Institutionen weltweit für Aufsehen gesorgt. Während vor allem die katholische Kirche im Fokus stand, richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf die evangelische Kirche in Deutschland. Eine umfassende Studie hat dort eine erschreckend hohe Zahl von Fällen sexualisierter Gewalt aufgedeckt.
2225 Opfer: Nur die Spitze des Eisbergs
Die Studie, durchgeführt von einem unabhängigen Forschungsteam, hat alarmierende Zahlen ans Licht gebracht: Insgesamt wurden 2225 Betroffene und 1259 Täter identifiziert. Doch diese Zahlen spiegeln vermutlich nicht das volle Ausmaß des Problems wider. Professor Martin Wazlawik, Koordinator der Studie, bezeichnete diese Ergebnisse als „nur die Spitze des Eisbergs“ und deutete an, dass die tatsächliche Zahl der Opfer wesentlich höher liegen könnte. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Kirsten Fehrs, äußerte sich tief erschüttert über das „Gesamtbild“ und betonte die Verantwortung der Kirche, sich mit diesen Fällen auseinanderzusetzen.
Das Ende einer Illusion
Detlev Zander, ein Vertreter der Betroffenen und selbst Opfer von Missbrauch in einem evangelischen Heim, wies darauf hin, dass die Annahme, sexuelle Gewalt sei ein hauptsächlich katholisches Problem, nun nicht länger haltbar sei. Er forderte die Einrichtung einer zentralen Stelle zur Dokumentation und Durchsetzung von Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt in den Landeskirchen. Zander sieht in der föderalen Struktur der evangelischen Kirche sogar einen Grundpfeiler für das Problem.
Föderale Struktur als Hindernis
Die Studie stellt fest, dass die föderale Struktur der Kirche eine einheitliche Vorgehensweise gegen sexualisierte Gewalt erschwert. Es existierten große Unterschiede zwischen den Landeskirchen hinsichtlich der Archivierung von Verdachtsfällen. Oft fehlten verbindliche Regelungen, und die Verantwortlichkeiten waren unklar, was die Aufarbeitung erheblich erschwerte.
Die Herausforderung der Aufarbeitung
Wazlawik merkte an, dass es in der evangelischen Kirche ein „langwieriges Ringen um Aufarbeitung“ gab, bei dem die Betroffenen oft selbst die Initiative ergreifen mussten. Die Kirche habe Fälle sexualisierter Gewalt oft als Einzelschicksale behandelt und nicht als strukturelles Problem erkannt.
Der Schuld-Vergebung-Komplex
Ein spezifisches Problem der evangelischen Kirche sei der sogenannte „Schuld-Vergebung-Komplex“. Die Erwartung, dass Opfer den Tätern vergeben sollten, führte oft zu einem sozialen Ausschluss der Betroffenen aus der Gemeinde, wenn sie nicht bereit waren, zu vergeben.
Die Forum-Studie: Ein umfassender Blick
Initiiert von der EKD im Jahr 2020, zielte die sogenannte Forum-Studie darauf ab, die Strukturen in der Kirche zu untersuchen, die sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Die Forscher hatten jedoch nur eingeschränkten Zugang zu den Akten, was darauf hindeutet, dass viele Fälle unberücksichtigt geblieben sein könnten.
Kein direkter Vergleich mit der katholischen Kirche
Es ist wichtig zu betonen, dass die Studie keinen direkten Vergleich zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche ermöglicht. Wazlawik betonte, dass die ermittelten Zahlen nicht ausreichen, um eine vergleichende Bewertung vorzunehmen, und dass sie das tatsächliche Ausmaß unterschätzen könnten.
Diese Studie markiert einen Wendepunkt in der Wahrnehmung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche in Deutschland