In einem kontroversen Schritt hat Ungarn ein neues Dekret in Kraft gesetzt, das die Schutzbedürftigkeit vieler ukrainischer Flüchtlinge infrage stellt. Diese Entscheidung könnte gravierende Auswirkungen auf Tausende Menschen haben, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Besonders betroffen sind Flüchtlinge aus Regionen, die die ungarische Regierung als sicher betrachtet und damit nicht mehr als schutzbedürftig einstuft. Die Folge: Viele Ukrainer könnten ihre Unterkünfte verlieren und auf die Straße gesetzt werden.
Die Situation der Flüchtlinge in Ungarn
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind viele Menschen in das benachbarte Ungarn geflohen, oft mit nichts weiter als dem, was sie tragen konnten. Vor allem in den ersten Tagen der Invasion suchten zahlreiche Ukrainer Zuflucht in Ungarn, wo sie jedoch von Anfang an auf eine ablehnende Haltung der Regierung stießen. Nun, mehr als zweieinhalb Jahre nach Ausbruch des Krieges, verschärft sich die Lage erneut.
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Ein neues Dekret, das von Ministerpräsident Viktor Orban im Juni 2024 unterzeichnet und am 21. August 2024 in Kraft gesetzt wurde, sorgt für weitreichende Veränderungen. Die Verordnung schränkt die Unterstützung für Flüchtlinge aus der Ukraine erheblich ein, wenn diese aus Regionen stammen, die von der ungarischen Regierung als nicht unmittelbar vom Krieg betroffen angesehen werden. Dies betrifft insbesondere Gebiete in der Westukraine, darunter die Region Transkarpatien, wo eine bedeutende ungarische Minderheit lebt.
Konkrete Auswirkungen des Dekrets
Bereits unmittelbar nach Inkrafttreten des Dekrets begannen privat betriebene Flüchtlingsunterkünfte, Ukrainer auszuquartieren. Dies führte zu dramatischen Szenen, wie beispielsweise in der Ortschaft Kocs nördlich von Budapest, wo rund 120 Flüchtlinge, überwiegend Roma-Frauen und -Kinder, unter polizeilicher Aufsicht ein Gästehaus verlassen mussten. Diese Menschen sehen sich nun mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert. „Wir sind in einer hoffnungslosen Lage, weil wir nirgendwohin können“, erklärte die fünffache Mutter Marina Amit, die im vergangenen Jahr mit ihren Kindern nach Ungarn geflohen war. Besonders beunruhigt ist sie darüber, dass ihr 17-jähriger Sohn bei einer Rückkehr in die Ukraine möglicherweise zum Militärdienst eingezogen werden könnte.
Rechtfertigungen und Kritik
Die ungarische Regierung verteidigt ihre Entscheidung. Norbert Pal, der Regierungsbeauftragte, bezeichnete das neue Dekret als „vernünftig und angemessen“. Er argumentierte, dass die Flüchtlinge genügend Zeit gehabt hätten, sich in Ungarn zu integrieren und ein neues Leben aufzubauen. „Zweieinhalb Jahre nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs hatten diejenigen, die in Ungarn wieder auf die Füße kommen wollten, dafür ausreichend Gelegenheit“, sagte Pal der regierungsnahen Zeitung „Magyar Nemzet“.
Doch diese Argumentation stößt auf heftige Kritik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schätzt, dass durch das Dekret 2000 bis 3000 Ukrainer in Ungarn ihre staatlich geförderten Unterkünfte verlieren könnten. Diese Maßnahme würde nicht nur den Verlust von Wohnraum bedeuten, sondern könnte auch dazu führen, dass Flüchtlinge ihre Arbeitsplätze verlieren und die Schulbildung ukrainischer Kinder unterbrochen wird. Dadurch würden die bisherigen Fortschritte in der Integration dieser Menschen gefährdet. Das UNHCR appellierte daher eindringlich an die ungarische Regierung, ihre Entscheidung zu überdenken und die Flüchtlinge weiterhin zu unterstützen.
Orban und seine umstrittene Russland-Politik
Die Entscheidung Ungarns steht im Kontext einer breiteren politischen Linie, die Viktor Orban seit Beginn des Ukraine-Krieges verfolgt. Orban ist der einzige Regierungschef in der Europäischen Union, der trotz des russischen Einmarschs enge Beziehungen zu Moskau aufrechterhält. Er lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und verfolgt eine Politik, die auf Distanz zur Unterstützung des von Russland angegriffenen Nachbarlandes geht. Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region hat Ungarn deutlich weniger ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Laut UNHCR haben etwa 46.000 Ukrainer in Ungarn einen Schutzstatus beantragt, was im Verhältnis zu den Zahlen anderer osteuropäischer Länder niedrig ist.
Die neuen Regelungen in Ungarn werfen Fragen zur Menschlichkeit und Verantwortung in Zeiten von Krieg und Flucht auf. Während die ungarische Regierung ihre Entscheidung als vernünftig und angepasst rechtfertigt, sehen sich Tausende ukrainische Flüchtlinge einer ungewissen Zukunft gegenüber. Ihre bisherigen Bemühungen, in einem fremden Land Fuß zu fassen, könnten durch das neue Dekret zunichtegemacht werden. Die internationale Gemeinschaft, vertreten durch Organisationen wie das UNHCR, sieht diese Entwicklung mit großer Besorgnis und fordert ein Umdenken von der ungarischen Regierung. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage für die Betroffenen weiterentwickeln wird und ob Ungarn seine Haltung angesichts der internationalen Kritik revidieren wird.