Ist Deutschland erneut Europas Sorgenkind?

Vor einem Vierteljahrhundert bezeichnete der „Economist“ Deutschland als den kranken Mann Europas. Wiedervereinigung, verkrusteter Arbeitsmarkt und schwindende Exportnachfrage stellten die Wirtschaft auf eine harte Probe und ließen die Arbeitslosigkeit zweistellig werden.

Doch Reformen zu Beginn der 2000er läuteten eine Boom-Phase ein. Deutschland wurde zum Neidobjekt seiner Konkurrenten. Pünktliche Züge und Technikspitzenleistungen machten das Land zum Exportweltmeister.

Während Deutschland jedoch prosperierte, bewegte sich der globale Kontext weiter. Heute findet sich das Land erneut in der Defensive. Einst Wachstumsführer, nun eher Nachzügler unter Europas Volkswirtschaften.

Zwischen 2006 und 2017 setzte Deutschland sich gegenüber großen Konkurrenten durch und hielt mit den USA Schritt. Heute aber könnte es die einzige große Volkswirtschaft sein, die 2023 schrumpft, nach drei Quartalen des Stagnierens.

Laut IWF wird Deutschlands Wachstum in den nächsten fünf Jahren hinter dem von Amerika, Großbritannien, Frankreich und Spanien zurückbleiben. Zwar ist die Arbeitslosigkeit mit etwa drei Prozent niedrig und das Land insgesamt wohlhabender und offener, aber die Unzufriedenheit wächst. 80 Prozent der Befragten empfinden Deutschland als ungerecht. Schweizer Bahnen müssen mittlerweile verspätete deutsche Züge aus ihrem Netz ausschließen. Außenministerin Annalena Baerbock brach wegen einer Flugzeugpanne ihre Reise nach Australien ab.

Jahrelang kaschierte Deutschlands Stärke in traditionellen Industrien den Investitionsstau im Bereich der neuen Technologien. Sparzwang und Selbstzufriedenheit bremsten öffentliche Investitionen. In IT-Investitionen gemessen am BIP hinkt Deutschland den USA und Frankreich deutlich hinterher. Bürokratischer Konservatismus, geopolitische Unsicherheiten und die alternde Bevölkerung verschärfen die Probleme.

Deutschlands Wirtschaft ist eng mit China verflochten – 2022 betrug der Handel 314 Milliarden Dollar (289 Milliarden Euro). Diese Beziehung, einst rein profitorientiert, ist nun komplexer. Deutsche Autohersteller verlieren in China Marktanteile.

Hinzu kommt die Energiewende: Deutschlands Industrie verbraucht enorme Energiemengen und der CO2-Ausstoß der Verbraucher übertrifft den der Franzosen oder Italiener deutlich. Billiges Gas aus Russland fällt als Option weg, und gleichzeitig hat man sich von der Kernenergie verabschiedet.

Wo sind die jungen Talente?

Deutschland steht auch vor einem Talentmangel. Durch den Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg werden in den nächsten fünf Jahren netto 2 Millionen Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen. Die Integration von 1,1 Millionen ukrainischen Flüchtlingen ist eine Herausforderung, da viele Kinder und nicht erwerbstätige Frauen darunter sind. Die heutige Regierung aus Sozialdemokraten, Freien Demokraten und Grünen scheint sich der Tragweite der Herausforderungen kaum bewusst zu sein.

Der Versuchung, am Status quo festzuhalten, ist groß. Aber das wird Deutschlands Prosperität nicht wiederherstellen. China entwickelt sich weiter, der Wettbewerb wird härter. Deutschland benötigt Technologieinvestitionen als Katalysator für neue Unternehmen und Branchen. Eine digitalisierte Verwaltung könnte für KMUs, die keine Kapazitäten für Bürokratie haben, entlastend wirken.

Eine Reform der Genehmigungsprozesse könnte zudem gewährleisten, dass Infrastrukturprojekte effizient und budgetkonform umgesetzt werden. Selbst wenn Deutschland nicht mehr so freizügig ausgeben kann wie in den 2010ern, sind Investitionen unerlässlich, um international nicht abgehängt zu werden.